Startaufstellung mit 600 Rennvelofahrern |
Die Ziele waren seit Anfang Saison klar: Erste Priorität hatte ein Podestplatz des Teams. In der Einzelwertung wurden eine bis zwei Top-Ten-Klassierungen angestrebt, evtl. ein Etappenpodestplatz. Doch wie immer bei solchen Rennen war es schwierig, die Stärke der Konkurrenz abzuschätzen. Spätestens auf der Startlinie in Genf war aber allen klar: Das Teilnehmerfeld war hochklassig. Bei den Damen reihten sich mit Emma Pooley und Alexandra Louison zwei Profiathletinnen in der Startaufstellung ein. Emma ist uns allen als fleissige Teilnehmerin am King of the Hill bekannt. Sie ist Ex-Weltmeisterin, Olympiamedaillengewinnerin und vor allem eines: Verdammt stark am Berg. Auch Louison als Gewinnerin mehrere Langdistanztriathlon und französische Triathlonmeisterin gilt als eigentlicher Bergfloh. Bei den Herren sah es nicht viel anders aus an der Startlinie: Peter Pouly als mehrfacher französischer Mountainbikemeister und immer noch sehr aktiver Rennfahrer sowie mehrere Top-Granfondo-Fahrer standen ebenso da wie das Team Kenya, welches sich mittelfristig für die Tour de France vorbereitet. Auch war "Dirty Harry" aka Harry Wiltshire anwesend, seines Zeichens Triathlonprofi aus England und berühmtberüchtigt für seine bisweilen etwas unzimperlichen Methoden im Wettkampf.
Starkes Teilnehmerfeld: Peter Pouly und Emma Pooley |
Ideales Renntempo?
Die sieben Etappen wurden im Massenstart gestartet. In der Regel waren die ersten Kilometer neutralisiert, bevor dann für die 600 Teilnehmer das eigentliche Rennen freigegeben und die Zeitmessung gestartet wurde. Schon am ersten Tag wurde der Tarif durchgegeben: Selbst in der langen neutralisierten Phase mussten die kleinen Zwischenanstiege voll hochgefahren werden. Dies, bevor das Rennen überhaupt begann. Und dann kam nach langen Kilometern endlich der reelle Start. Col de Romme hiess das Biest, welches sich da mit bis zu 15% Steigung in den Weg stellte. Und was dann geschah ist schnell erzählt: Volle Pulle in die Steigung rein, danach Ausscheidungsfahren. Zumindest machten es die meisten genau so. Die etwas erfahrenen Athletinnen und Athleten nahmen ein wenig Gas raus und sparten sich die Kräfte für die weiteren Pässe des Tages und der Woche. Und das sollte sich auszahlen. Die Abstände im Ziel des ersten Tages waren noch gering, doch der Kräfteverschleiss bei einigen wohl schon recht gross. An diesem Tag kämpften sehr viele Fahrer mit Krämpfen. Dies wohl auch deshalb, weil zu Beginn in der neutralisierten Phase sehr hektisch gefahren und dann die ersten Anstiege im Vollgasmodus hochgepowert wurde. Nicht jeder hatte am ersten Tag die richtige Mischung aus Angriff und Zurückhaltung gefunden.
Tägliches Ritual nach jeder Etappe: Gemeinsames Mittagessen im Team |
Etappenrennen sind nicht Eintagesrennen
Ausscheidungsrennen im Schlussaufstieg nach Courchevel |
Eine Spezialität des Haute Route ist es, dass die Etappen immer mit einer Bergankunft enden. Und diese hatten es vielfach in sich. So zum Beispiel am zweiten Tag. Nach einem ersten Pass folgte ein langes Flachstück mit starkem Gegenwind. Praktisch das ganze Team kam wie vorgesehen (wenn auch mit viel Aufwand) im ersten Feld geschlossen auf das Flachstück. Da wollte erwartungsgemäss niemand wirklich Führungsarbeit leisten, weder unser noch die anderen starken Teams wollten zu viel Kraft aufwenden. In einem der zahlreichen kurzen Zwischenanstiege schien dann aber eine Vorentscheidung zu fallen: Carlos griff beherzt an und kam mit zwei anderen Fahrern weg. Die drei harmonierten gut und erarbeiteten sich einen immer grösseren Vorsprung. Es schien eine Vorentscheidung gefallen zu sein, hinten machte unser Team keine Führungsarbeit mehr und die anderen Fahrer waren ebenfalls nicht sehr motiviert, sich im Gegenwind zu stark abzurackern, schliesslich warteten noch über 1000 Höhenmeter im Schlussaufstieg nach Courchevel. Und dann geschah, was geschehen musste. Carlos und seine zwei Begleiter hatten sich zu sehr verausgabt. Das Feld schluckte sie bereits im ersten Drittel des Aufstiegs. Dass bei einem Etappenrennen solche Kraftakte tödlich sein können, musste Carlos leidvoll erfahren. Mit leeren Beinen quälte er sich hoch, während die anderen Teamfahrer relativ frisch waren. Und das war auch nötig, denn jetzt ging die Post ab. Eine stetige Temposteigerung sorgte für ein regelrechtes Ausscheidungsrennen. Am Schluss war noch eine Gruppe mit Marcel und zwei Konkurrenten übrig. Marcel hatte die besseren Beine, hielt sich aber im Hinblick auf die nächsten Tage zurück und überquerte hinter der üblichen Spitzengruppe um den Leader Pouly gemeinsam mit den beiden Begleitern als erster Verfolger die Ziellinie. Wenn er gewusst hätte, dass am Ende der Woche genau diese beiden im Gesamtklassement nur gerade 2 Minuten vor ihm liegen würden, hätte er wohl anders gehandelt und auf den letzten Kilometern seine Mitstreiter noch stehen lassen. Während kurz nach Marcel mit Markus und Christian gleich die beiden nächsten Team Rider die Ziellinie überquerten, quälte sich Carlos die unendliche Steigung hinauf und versuchte, den Schaden in Grenzen zu halten. Dies gelang ihm, erholte er sich doch wieder einigermassen gegen den Schluss der Steigung. Doch Carlos hatte sehr viel Energie verbraucht und blickte mit gemischten Gefühlen auf den nächsten Tag mit der Königsetappe. Hinter den stärksten männlichen Teamfahrern lieferte Marianne als vierte der Damen eine solide Tagesleistung ab. Sie fuhr die ganze Woche mit einer unglaublichen Konstanz und Ruhe. Dies sollte sich noch auszahlen. Doch dazu später. Wichtig war auch, dass sich das Team auf dem dritten Rang der Teamwertung etabliert hatte.
Hitzeschlacht an Tour-de-France-Monumenten
Die Königsetappe über Col de la Madeleine, Col du Glandon und dem Schlussaufstieg auf die Alpe d'Huez war vor allem eins: Heiss. Temperaturen von über 30 Grad und selbst auf den Pässen nicht viel darunter verlangten auf dieser sehr langen Etappe alles ab. Doch das Team schlug sich toll. Alle erreichten gute Platzierungen und in der Teamwertung konnte der dritte Platz gefestigt werden. Marcel arbeitete sich im Gesamtklassement weiter nach vorne und belegte erstmals einen Top-Ten-Platz. Nur eine Minuten hinter ihm hielt sich mit Christian ein nächster Teamfahrer in Lauerstellung auf die Top Ten. Markus hatte sich nach dem ersten Tag (an dem er wegen Krämpfen weit zurückgefallen war) endgültig gefangen und in den Top-20 etabliert. Carlos hingegen musste auf diesen 4700 Höhenmetern viel Tempo herausnehmen, weil er sich vom Effort des Vortages noch nicht gut erholt hatte. Ein 36. Overall-Rang war kein schlechter Lohn dafür. Marianne schliesslich kämpfte zwar etwas mit Magenproblemen, hielt sich aber als vierte overall schadlos und lag immer noch in Reichweite des Podestes.
Marianne liess auch manchen Mann am Berg stehen |
Bikers Heaven: Zeitfahren Alpe d'Huez
Und so kam der nächste grosse Tag, der heimliche Höhepunkt des Haute Route: Das Einzelzeitfahren auf die Alpe d'Huez. Hier stellte sich die grosse Frage: Wieviel Energie soll für diese kurze Etappe aufgewendet werden? Den Tag als "Ruhetag" nutzen und mit angezogener Handbremse fahren oder volle Kanne auf Rekordzeit hochpowern, schliesslich würde sich diese Gelegenheit so schnell nicht mehr ergeben? Die meisten wählten den Kompromiss: Zügig fahren, aber nicht am Anschlag, um die nächsten anspruchsvollen Tage noch einigermassen gut zu überleben. Marcel gelang dabei die schnellste Zeit, während die anderen kurz dahinter ins Ziel kamen. Carlos hatte sich wieder erholt und konnte seine Klasse aufblitzen lassen, als er am Schluss noch ein Duell mit Emma austrug und Schulter an Schulter mit ihr ins Ziel sprintete. Marianne fuhr solide und kam als vierte knapp hinter ihrer schwedischen Konkurrentin ins Ziel. Im Gegensatz zu Marianne hatte sich diese aber zu stark verausgabt und brach im Ziel erschöpft zusammen. Die Königsetappe in der Hitze und die Alpe d'Huez hatten ihren Tribut gefordert und die bedauernswerte Athletin musste das Haute Route aufgeben. Damit rückte Marianne aufs Podest vor und musste nun ihrerseits die Position gegen hinten verteidigen.
Zeitfahren auf die Alpe d'Huez: Schlussspurt nach kontrolliertem Rennen |
Die folgenden drei Etappen mit Höhepunkten wie Col d'Izoard, Col de la Bonnette und diversen anspruchsvollen Bergankünften standen für alle unter demselben Motto: Überleben. Und möglichst energieschonend über die Runden kommen. Das Team teilte sich dabei in verschiedene Lager: Marcel, Carlos, Beat, Stefan und Marianne konnten sich gegen Schluss steigern und das Rennen aktiv gestalten. Christian, Markus und Jan versuchten, möglichst gut über die Runden zu kommen und ihre Position zu halten. Die Beine fühlten sich bei allen etwa ähnlich an: Undefinierbar müde, aber doch noch leistungsfähig und wenn der Kopf stimmte, auch noch richtig schnell. Alle hatten ihr Hochs und Tiefs, das Ende schien zwar noch weit weg, aber dann kam trotzdem endlich der letzte Tag.
Regeneration zwischen den Etappen war wichtig: Marcel in seinem täglichen Kältebad |
Spitzenergebnisse für Team und Einzelfahrer
Marianne stand zweimal als Etappendritte und dann vor allem als Gesamtdritte auf dem Podest |
Und am letzten Tag ging es nochmals so richtig zur Sache. Mit unterschiedlichem Ausgang: Marianne konnte den Tag geniessen, hatte sie sich doch mit ihren zwei dritten Rängen an den Tagen zuvor eine komfortable Ausgangslage geschaffen und konnte ihre Konkurrentinnen kontrollieren. Sie erreichte das Ziel als sensationelle Gesamtdritte. Unglaublich, bei diesem starken Feld. Sie zeigte über die Woche die konstanteste Leistung, liess sich nie aus der Ruhe bringen und zog ihr Tempo durch. Bewundernswert. Carlos arbeitete sich mit einem engagierten Rennen noch auf den 27. Schlussrang vor. Ein verdienter Lohn! Markus und Christian kamen mit letzter Kraft ins Ziel: 22. und 17. Rang nach 7 Tagen. Marcel versuchte nochmals alles und fuhr mit vollem Risiko. Am zweiten Pass griff er an und setzte sich vom Feld ab. Nach einer 30-Kilometer-Soloflucht schloss er auf die vorderste Gruppe auf und kämpfte sich mit letzter Kraft über den allerletzten Anstieg. Sein Vorsprung auf die Verfolger reichte, um im Gesamtklassement nochmals einen Rang gut zu machen und schliesslich als 8. overall und 3. seiner Age Group Nizza zu erreichen. Nur 2 Minuten fehlten auf den 6. Rang. Doch eben, im Nachhinein ist man immer schlauer. Jan und Beat finishten das Haute Route schliesslich als gute 58. und 73. overall. Stefan musste den letzten Tag mit Turnschuhen fahren, weil er seine Veloschuhe am Vorabend in der Massage vergessen hatte. Trotzdem konnte er einen 158. Schlussrang erkämpfen und mancher Mitkonkurrent rieb sich verwundert die Augen, als er von ihm am Berg stehen gelassen wurde.
Das Team musste am letzten Tag noch einen Grossangriff des direkt dahinter liegenden italienischen Team BMC abwehren. Winzige 4 Minuten Vorsprung in der Teamwertung reichten, um den dritten Rang zu verteidigen und auf dem Podest in Nizza zu landen.
Nach 7 harten Etappen endlich am Meer in Nizza |
Apropos Nizza: Die Zieleinfahrt erfolgte von allen 600 Fahrern neutralisiert und gemeinsam. Ein unglaubliches Erlebnis, auf der berühmten Promenade des Anglais nach dieser harten Woche gemeinsam einzufahren. Das Team hatte seine Ziele zu 100% erreicht, mit dem Podestplatz von Marianne in zwei Etappen sowie im Gesamtklassement sogar mehr als erreicht. Entsprechend glücklich rollten alle hinter der Polizeieskorte und unter tosendem Applaus der Zuschauer an der Strandpromenade ins Ziel. Das ersehnte Bad im Mittelmeer war Ehrensache.
Die nachfolgende Siegerehrung und das abendliche Abschlussfest standen dann allerdings unter einem traurigen Stern: Den Teilnehmern wurde mitgeteilt, dass ein Mitkonkurrent am letzten Tag in einer Abfahrt tödlich verunglückt war. Ein Schock für alle. Die Platzierungen traten dabei sofort weit in den Hintergrund, alle Gedanken waren bei der Familie des Verunglückten.
Mehr Informationen zum Haute Route sowie die vollständigen Ergebnisse und viele Bilder finden sich hier:
www.hauteroute.org
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen